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IS-Kämpfer über Ankaras Angriffe
24.07.2015
"Die Türkei wird büßen"
Von Hasnain Kazim, Istanbul
IS-Kämpfer (Archiv): Die Terrormiliz ist empört über die türkische Kriegserklärung
Die Türkei hat dem "Islamischen Staat" den Krieg erklärt. Dschihadisten kündigen Vergeltung an: "Früher oder später" werde das Land bezahlen. Die Terrormiliz verlegt offenbar schon Panzer an die Grenze.
Die Kehrtwende scheint vollzogen, die Türkei hat ihre Zurückhaltung gegenüber der Terrormiliz beendet: Die Luftwaffe fliegt Angriffe auf Stellungen des "Islamischen Staats" (IS) in Syrien. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden dabei neun IS-Extremisten getötet. Premierminister Ahmet Davutoglu droht mit weiteren Attacken. Tausende Polizisten durchsuchen Wohnungen im ganzen Land, von Menschen, die dem IS nahestehen könnten. Und neue Grenzmauern zwischen Syrien und der Türkei sollen es Dschihadisten erschweren, vom einen Land in das andere zu kommen.
Kämpfer des IS zeigen sich nun empört über die türkische Kriegserklärung. "Ich glaube, die Türkei macht einen schweren Fehler, sich gegen uns zu stellen", sagt ein junger IS-Kämpfer SPIEGEL ONLINE, der sich der Terrormiliz im vergangenen Jahr angeschlossen hat. Er nennt sich Abu Ibrahim, ist 24 Jahre alt und türkischer Staatsbürger. Er war nach eigenen Angaben noch nie in einem Kampfgebiet in Syrien oder im Irak. Dem Vernehmen nach haben IS-Sympathisanten in der Türkei den Auftrag, die Logistik zu organisieren - alle wichtigen Nachschubrouten für die Extremisten, ob neue junge Kämpfer, Lebensmittel oder Waffen und Munition, laufen durch die Türkei.
Ein anderer türkischer IS-Anhänger, Anfang 30, geht davon aus, dass der IS sich gegen das türkische Vorgehen wehren wird. "Früher oder später wird die Türkei dafür büßen, dass sie gegen uns vorgeht", sagt der Mann, der sich den Kampfnamen Abu Sayyaf gegeben hat, nach dem Vorbild eines bekannten Kaders der Miliz. "Wir sind bereit zum Kampf."
Womöglich läuft bereits die Vorbereitung. Türkischen Berichten zufolge zieht der IS derzeit Panzer und Artillerie aus seiner Hochburg Rakka ab und verlegt sie an die Grenze zur Türkei.
Bislang war die Türkei vom Terror der IS-Extremisten verschont worden. Zwar wurden türkische Diplomaten und türkische Lastwagenfahrer im Irak entführt, aber nach einigen Verhandlungen mit Unterhändlern der Regierung in Ankara wieder freigelassen. Der erste größere Angriff des IS war am Montag der Anschlag von Suruc, bei dem 32 Menschen getötet wurden. "Das waren doch Gegner der Türkei", sagt Abu Ibrahim. "Die Türken sollten froh sein, dass wir ihre Staatsfeinde bekämpfen."
Türkei ist "Ursünde des Westens"
Junge IS-Kämpfer wie Abu Ibrahim und Abu Sayyaf sind aufgebracht, wütend, kampflustig. Am liebsten, sagen sie, würden sie die Türkei "sofort bestrafen". Sicherheitsexperten vermuten mehrere Tausend IS-Sympathisanten und Mitläufer in dem Land. Sie könnten den Terror in die türkischen Metropolen tragen und damit das bei Touristen beliebte Land empfindlich treffen. Noch vor einem Jahr verkauften IS-Anhänger in Städten wie Istanbul und Ankara offen IS-Devotionalien wie Flaggen, T-Shirts und Aufkleber. Seither sind sie zunehmend abgetaucht und organisieren ihren Feldzug nun aus dem Untergrund.
Die Beziehungen zur Türkei sind nicht erst seit jetzt getrübt. "Historisch gesehen, ist die moderne Türkei aus Sicht des IS die Ursünde des Westens gegen den Islam", sagt Islamwissenschaftler und IS-Experte Wilfried Buchta, der kürzlich das Buch "Terror vor Europas Toren: Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht" veröffentlicht hat. "Das Osmanische Reich wurde nach dem Ersten Weltkrieg zerschlagen, das Sultanat und das Kalifat abgeschafft. Die Nationalstaaten, die auf den Trümmern entstanden, lehnt der IS ab."
Aus Sicht des IS war man mit der - eigentlich ungeliebten - Türkei eine Art Zweckbündnis eingegangen: Man nutzte die geostrategische Lage des Landes für seine Zwecke und ließ es ansonsten in Ruhe. Die Türkei war für den IS zu wichtig, als dass man es sich mit ihr verscherzen konnte. Nicht nur der Nachschub kam von dort, der IS verkaufte auch große Mengen Öl von den eroberten Ölfeldern an türkische Mafiaorganisationen und finanzierte so seine quasi-staatlichen Strukturen.
Das IS-nahe Onlinemagazin "Konstantiniyye", nach der osmanischen Bezeichnung für Istanbul, wirft der türkischen Regierung in seiner jüngsten Ausgabe vor, von Allah gesetzte Grenzen zu überschreiten und "Zugeständnisse" gegenüber der PKK, "dieser atheistischen Bande", zu machen. Allerdings hat die Regierung den Kampf gegen den IS auch zum Anlass genommen, gleichzeitig gegen die PKK vorzugehen. Die direkte Kritik an der türkischen Regierung und an Präsident Recep Tayyip Erdogan jedenfalls ist neu für eine IS-nahe Publikation.
Abu Ibrahim und Abu Sayyaf erklären, dass sie derzeit noch auf Anweisungen warten würden. Derzeit müssten sie aber vor allem darauf achten, "vor diesen Handlangern der Ungläubigen", wie Abu Ibrahim die türkischen Polizisten nennt, in Sicherheit zu sein. Selbst wenn der IS nicht zurückschlägt, hat er eines in der Türkei schon erreicht: Angst vor dem Terror zu verbreiten.
Video: Türkei nimmt Hunderte Terrorverdächtige fest
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